Veröffentlicht am April 22, 2024

Entgegen der gängigen Meinung stärken Sie Ihre Identität in der Schweiz nicht durch den Besuch von Events, sondern indem Sie Kultur aktiv mitgestalten.

  • Passive Konsumhaltung führt zur «Kultur-Konsum-Falle», die das Gefühl der Entwurzelung verstärkt.
  • Wahre Zugehörigkeit entsteht durch die bewusste Aneignung lokaler Traditionen und die Dokumentation der eigenen Familiengeschichte.

Recommandation: Beginnen Sie damit, Ihre persönliche Kultur-Landkarte zu zeichnen, indem Sie von blossem Zuschauen zum aktiven Mitmachen übergehen.

In einer zunehmend globalisierten Welt, in der internationale Trends nur einen Klick entfernt sind, verspüren viele Menschen in der Schweiz ein paradoxes Gefühl der Entwurzelung. Man lebt in einem Land mit vier Landessprachen, unzähligen Dialekten und einer tief verwurzelten Tradition des Föderalismus, und fühlt sich dennoch nicht wirklich zugehörig. Kulturelle Identität, also die Antwort auf die Frage «Wer bin ich und wo gehöre ich hin?», wird zu einer komplexen Suche. Der gängige Ratschlag lautet oft: Besuchen Sie Museen, gehen Sie ins Theater, lernen Sie eine Landessprache. Diese Ratschläge zielen jedoch meist auf einen passiven Kulturkonsum ab.

Doch was, wenn der Schlüssel zu echter Zugehörigkeit nicht im Konsumieren, sondern im aktiven Gestalten liegt? Was, wenn die Stärkung der eigenen Identität weniger im Zürcher Opernhaus als vielmehr im lokalen Jass-Club, in der Wiederentdeckung einer fast vergessenen Familientradition oder im Dokumentieren der eigenen Migrationsgeschichte zu finden ist? Dieser Artikel vertritt die These, dass wahre kulturelle Verankerung durch eine bewusste Abkehr von der passiven Konsumentenrolle entsteht. Es geht darum, vom Zuschauer zum Akteur zu werden und Kultur nicht als fernes Objekt zu betrachten, sondern als lebendiges Material zur Formung der eigenen Identität.

Wir werden untersuchen, warum kulturelle Passivität zu Identitätskrisen führen kann und wie Sie durch konkrete Projekte echte Gemeinschaftsbindung erfahren. Dieser Leitfaden zeigt Ihnen, wie Sie die für Sie passenden Kulturformen finden, Ihre eigene Geschichte als wertvollen Beitrag zur Schweizer Kulturvielfalt begreifen und so in unsicheren Zeiten Stabilität und ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit kultivieren.

Die folgenden Abschnitte bieten Ihnen eine fundierte Reise von der Analyse des Problems bis hin zu konkreten Handlungsstrategien, um Ihre kulturelle Identität aktiv zu stärken und sich in der Vielfalt der Schweiz wirklich heimisch zu fühlen. Entdecken Sie die Mechanismen, die Zugehörigkeit schaffen, und finden Sie Ihren Platz.

Warum Menschen ohne kulturelle Verankerung 3-mal häufiger unter Identitätskrisen leiden?

Das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören, ist mehr als nur eine vage Empfindung; es hat messbare psychische Auswirkungen. Ein Mangel an kultureller Verankerung, also das Fehlen von Ritualen, Gemeinschaften und Erzählungen, die uns einen Platz in der Welt geben, erzeugt ein Vakuum. Dieses Vakuum wird oft durch Stress, Unsicherheit und Identitätskonflikte gefüllt. In der Schweiz, einem Land, das stark von Migration und kultureller Vielfalt geprägt ist, kann diese Herausforderung besonders akut sein. Aktuelle Daten des Bundes zeigen einen alarmierenden Anstieg der psychischen Belastung: Fast 29% der jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren waren 2023 in psychischer Not, ein deutlicher Anstieg gegenüber 2017.

Dieses Phänomen lässt sich gut am Beispiel der sogenannten «Third Culture Kids» (TCKs) oder «Secondos» in der Schweiz illustrieren. Eine Studie der FHNW zeigt, dass diese jungen Menschen, die zwischen verschiedenen Kulturen aufwachsen, oft mit Loyalitätskonflikten konfrontiert sind. Sie fragen sich, welchem Land, welcher Kultur sie angehören sollen. Gleichzeitig entwickeln sie oft ein sehr scharfes Bewusstsein für Identitätsfragen, da sie verschiedene Lebensweisen kennengelernt haben. Ihre Erfahrung zeigt: Identität ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein aktiver Prozess der Auseinandersetzung.

Die kulturelle Komplexität der Schweiz kann dabei sowohl Herausforderung als auch Chance sein. Wie der SRF in einem Schwerpunkt zur Mehrsprachigkeit treffend feststellte, wirkt diese Vielfalt per se identitätsstiftend, da sie ständig zur Positionierung auffordert.

Die Mehrsprachigkeit wirkt identitätsstiftend, ist ständig spürbar, selbst wenn man nur eine Sprache spricht oder gar keine von ihnen, sondern eine ‚fünfte‘ aus einer fremden Heimat mitgebracht hat.

– SRF Kultur, Schwerpunktwoche zur Mehrsprachigkeit

Eine fehlende kulturelle Verankerung bedeutet letztlich, keine Antwort auf die Frage «Wo ist mein Platz?» zu haben. Diese Unsicherheit kann ein starker Nährboden für Identitätskrisen sein, da der Mensch ein grundlegendes Bedürfnis nach Zugehörigkeit hat. Die aktive Auseinandersetzung mit Kultur ist somit kein Luxus, sondern ein wesentlicher Baustein für psychische Stabilität.

Wie Sie in 6 Monaten durch Kulturprojekte echte Gemeinschaftsbindung aufbauen?

Echte Gemeinschaft entsteht nicht durch Zufall, sondern durch gemeinsames Handeln und Erleben. Kulturprojekte bieten hierfür einen idealen Rahmen. Der Schlüssel liegt darin, von der Rolle des passiven Zuschauers in die des aktiven Mitgestalters zu wechseln. Die Schweizer Vereinskultur ist hierfür ein traditionell starkes Fundament. Ob in einem Jodelchor, einem Turnverein oder einer Theatergruppe – hier werden nicht nur Fähigkeiten trainiert, sondern vor allem soziale Bindungen geknüpft und gemeinsame Identitäten geformt.

Diverse Gruppe bei traditioneller Schweizer Vereinsaktivität in gemütlicher Atmosphäre

Wie dieses Bild einer Vereinsaktivität andeutet, ist die Atmosphäre entscheidend. Es geht um den «Resonanzraum» – einen Ort, an dem die eigene Person und der eigene Beitrag Widerhall finden. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Multimondo in Biel, das Kompetenzzentrum für Integration. Seit 1998 schafft der Verein mit zweisprachigen Bildungsangeboten und Begegnungsorten wie dem «Forum Together» oder der mehrsprachigen Bibliothek «Librimondo» (mit Büchern in 60 Sprachen) konkrete Räume für kulturelle Teilhabe und interkulturellen Austausch. Solche Orte ermöglichen es, innerhalb weniger Monate ein starkes Netzwerk und ein Gefühl der Zugehörigkeit aufzubauen.

Oftmals ist der Zugang zu Kulturangeboten eine finanzielle Hürde. Hier setzt die KulturLegi der Caritas an. Sie ermöglicht Menschen mit knappem Budget den Zugang zu Tausenden von Kultur-, Sport- und Bildungsangeboten in der ganzen Schweiz. Der Prozess ist einfach:

  • Berechtigung prüfen: Anspruch haben Personen, die Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen oder Stipendien beziehen oder deren Einkommen am Existenzminimum liegt.
  • Antrag stellen: Der Antrag kann online auf kulturlegi.ch oder bei der lokalen Caritas-Stelle gestellt werden.
  • Angebote nutzen: Mit der Karte erhält man 30-70% Rabatt auf über 4’200 Angebote, von Museumseintritten bis zu Sprachkursen.

Durch die aktive Teilnahme an solchen Projekten, sei es in einem Verein oder über geförderte Angebote, wird aus einem abstrakten «man sollte» ein konkretes «ich bin dabei». Innerhalb von sechs Monaten können so aus losen Bekanntschaften feste Bindungen und aus einem Gefühl der Fremdheit ein Gefühl der Heimat erwachsen.

Hochkultur oder Volkskultur: Was stiftet stärkere kulturelle Identität und Zugehörigkeit?

Die Frage, welche Kulturform mehr zur Identitätsstiftung beiträgt, führt oft zu einer falschen Dichotomie. Sowohl die Hochkultur, wie sie in Opernhäusern und grossen Kunstmuseen präsentiert wird, als auch die Volkskultur mit ihren regionalen Festen und Bräuchen haben ihren Wert. Entscheidend ist jedoch nicht die Form, sondern der Grad der Zugänglichkeit und die Möglichkeit zur Partizipation. Hochkultur ist oft mit höheren Kosten, einer urbanen Konzentration und einer gewissen Exklusivität verbunden, was sie für viele zu einem reinen Konsumgut macht. Volkskultur hingegen ist häufig niederschwelliger, regional verwurzelt und lädt zur aktiven Teilnahme ein.

Das Bundesamt für Kultur betont in seiner Strategie zur Stärkung der kulturellen Teilhabe genau diesen Punkt. Identität entsteht dort, wo man sich der eigenen Prägungen bewusst wird und selbst aktiv wird. Wie eine vergleichende Analyse des Bundesamtes für Kultur zeigt, unterscheiden sich die Kulturformen in der Schweiz stark in ihrer Wirkung:

Vergleich der kulturellen Zugänglichkeit in der Schweiz
Kulturform Beispiele Schweiz Zugänglichkeit Identitätsstiftung
Hochkultur international Art Basel, Montreux Jazz Festival Teuer, urban konzentriert Global, weniger lokal verankert
Traditionelle Volkskultur Schwingen, Fasnacht, Alpabzüge Niederschwellig, regional Stark lokal verwurzelt
Neue Volkskultur Street-Art, Indie-Festivals Jung, urban Hybrid, generationenspezifisch
Gemischte Formen Jodel im Theater, Scherenschnitt in Museen Mittlere Schwelle Brücke zwischen Traditionen

Die Tabelle verdeutlicht: Während globale Events wie das Montreux Jazz Festival ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer internationalen Gemeinschaft vermitteln können, sind es oft die lokalen Traditionen wie die Basler Fasnacht oder ein regionaler Alpabzug, die ein tiefes Gefühl der lokalen Verankerung schaffen. Hier ist man nicht nur Zuschauer, sondern Teil eines kollektiven Rituals. Stärkere kulturelle Identität im Sinne von lokaler Zugehörigkeit wird daher eher durch Volkskultur gestiftet, weil sie aktiver, gemeinschaftlicher und direkter erlebbar ist.

Wer am kulturellen Leben teilnimmt, wird sich der eigenen kulturellen Prägungen bewusst, entwickelt eine eigene kulturelle Identität und trägt so zur kulturellen Vielfalt der Schweiz bei.

– Bundesamt für Kultur, Strategie zur Stärkung der kulturellen Teilhabe

Letztendlich ist die wirksamste Strategie oft eine Mischung. Indem man traditionelle Formen wie den Scherenschnitt in einem modernen Museumskontext neu entdeckt oder Jodel auf einer Theaterbühne erlebt, entstehen Brücken, die sowohl die Tradition ehren als auch neue Zugänge schaffen. Der Fokus sollte immer auf der Handlung liegen, nicht auf dem Prestige des Events.

Die Kultur-Konsum-Falle, die Identität passiv statt aktiv erfahrbar macht

Die grösste Hürde auf dem Weg zu einer starken kulturellen Identität ist die «Kultur-Konsum-Falle». Wir sind es gewohnt, Kultur wie ein Produkt zu konsumieren: Wir kaufen ein Ticket, schauen zu, applaudieren und gehen nach Hause. Dieser Prozess macht uns zu passiven Empfängern und hinterlässt selten ein nachhaltiges Gefühl der Zugehörigkeit. Identität entsteht jedoch nicht durch das Betrachten, sondern durch das Tun. Die Tatsache, dass in der Schweiz bereits über 197’000 Menschen die KulturLegi nutzen, zeigt den immensen Wunsch, nicht nur Zaungast, sondern aktiver Teil des kulturellen Lebens zu sein.

Um aus dieser Falle auszubrechen, kann das Modell der «Leiter der kulturellen Teilhabe» helfen. Es beschreibt verschiedene Stufen des Engagements, von passiv bis vollständig selbstbestimmt. Indem Sie bewusst versuchen, eine Stufe höher zu klettern, verwandeln Sie Konsum in Gestaltung.

  1. Rezipieren: Die Basisstufe. Sie hören zu, schauen zu, lesen. Dies ist der Einstieg, um ein Thema kennenzulernen.
  2. Interagieren: Sie beginnen, über das Gesehene nachzudenken, stellen Fragen und diskutieren mit anderen darüber, zum Beispiel in einem Buchclub oder nach einem Film.
  3. Partizipieren: Sie werden selbst aktiv und gestalten mit. Sie singen im Chor mit, statt nur zuzuhören, oder nehmen an einem Schreibworkshop teil.
  4. Kollaborieren: Sie entwickeln gemeinsam mit anderen ein Projekt. Sie bestimmen Thema, Rahmen und Methode selbst, zum Beispiel bei der Organisation eines Quartierfestes.
  5. Reklamieren & Handeln: Die höchste Stufe. Sie stossen aus eigener Initiative Projekte an und äussern sich als Individuum oder Gruppe selbsttätig kreativ, weil Sie ein Bedürfnis erkennen.

Dieser Aufstieg von der Passivität zur Aktivität ist der eigentliche Motor der Identitätsbildung. Auf jeder neuen Stufe investieren Sie mehr von sich selbst und schaffen so eine tiefere Verbindung zum kulturellen Ausdruck und zur Gemeinschaft. Es ist der Unterschied zwischen dem Betrachten eines Gemäldes einer Landschaft und dem Wandern in dieser Landschaft.

Ihr Aktionsplan: Von der Konsumfalle zur aktiven Gestaltung

  1. Punkte der Rezeption inventarisieren: Listen Sie alle kulturellen Aktivitäten der letzten 6 Monate auf (Kinobesuche, Konzerte, Museumsbesuche).
  2. Aktivitätsgrad bewerten: Ordnen Sie jede Aktivität auf der «Leiter der Teilhabe» ein. Wie oft waren Sie nur Rezipient? Wo haben Sie interagiert oder partizipiert?
  3. Potenziale identifizieren: Wo könnten Sie eine Stufe höher klettern? Könnte aus dem Kinobesuch eine Filmgruppe werden? Aus dem Konzertbesuch der Beitritt zu einem Chor?
  4. Ein kleines Projekt definieren: Wählen Sie eine Aktivität und setzen Sie sich das Ziel, innerhalb des nächsten Monats von der reinen Rezeption zur Interaktion oder Partizipation zu gelangen.
  5. Ressourcen aktivieren: Recherchieren Sie lokale Vereine, Kurse oder Initiativen (z.B. über die Gemeindewebsite oder Plattformen wie Multimondo), die zu Ihrem Projekt passen.

Indem Sie Ihre eigenen Gewohnheiten analysieren und bewusst verändern, durchbrechen Sie den Zyklus des passiven Konsums und beginnen, Ihre kulturelle Identität aktiv und selbstbestimmt zu formen.

Wie Sie durch Oral History Ihre Familiengeschichte in 5 Schritten dokumentieren?

Eine der kraftvollsten Methoden, um kulturelle Wurzeln zu schlagen, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Ihre Familiengeschichte ist kein isoliertes Ereignis, sondern ein Mikrokosmos der Schweizer Geschichte und Kultur. Die Methode der «Oral History» – das systematische Sammeln von mündlich überlieferten Erinnerungen – verwandelt Anekdoten in ein wertvolles kulturelles Dokument und einen starken Identitätsanker.

Drei Generationen einer Schweizer Familie beim gemeinsamen Betrachten alter Fotografien

Das gemeinsame Betrachten alter Fotos oder das Erzählen von Geschichten über Generationen hinweg schafft eine unmittelbare, emotionale Verbindung zur eigenen Herkunft. Es macht Geschichte greifbar und persönlich. Für die Dokumentation Ihrer Schweizer Familiengeschichte können Sie sich an den folgenden Schritten orientieren, die spezifisch auf die hiesigen Gegebenheiten zugeschnitten sind:

  1. Kontakt mit kantonalen Archiven aufnehmen: Jeder Kanton verfügt über ein eigenes Staatsarchiv mit historischen Dokumenten (z.B. Einbürgerungsakten, Meldekarten). Diese bieten den offiziellen Rahmen für die persönlichen Erzählungen.
  2. Historischen Kontext recherchieren: Nutzen Sie Datenbanken wie die des Schweizerischen Sozialarchivs oder des Bundesarchivs, um die Erzählungen Ihrer Familie in einen grösseren historischen Kontext einzuordnen.
  3. Schweizspezifische Gesprächsanstösse vorbereiten: Fragen Sie nicht nur nach persönlichen Daten, sondern auch nach der Wahrnehmung grosser nationaler Ereignisse. Wie hat Ihre Grossmutter die Einführung des Frauenstimmrechts 1971 erlebt? Welche Erinnerungen hat Ihr Vater an das Swissair-Grounding 2001?
  4. Interviews im Dialekt führen: Führen Sie die Gespräche wenn möglich im lokalen Dialekt und dokumentieren Sie besondere Ausdrücke. Der Dialekt ist ein zentraler Träger regionaler Identität in der Schweiz.
  5. Migrationsgeschichte als zentrales Kapitel sehen: Für viele Familien in der Schweiz ist die «Ankunftsgeschichte» ein entscheidender Teil ihrer Identität. Dokumentieren Sie die Geschichte der Migration, die Herausforderungen und die Erfolge. Sie ist ein wesentlicher Beitrag zur modernen Schweizer Kulturvielfalt.

p>Durch diesen Prozess wird Familiengeschichte mehr als eine Sammlung von Daten. Sie wird zu einer lebendigen Erzählung, die Ihre persönliche Identität mit der kollektiven Geschichte der Schweiz verknüpft und ein tiefes Gefühl der Verwurzelung schafft.

Wie Sie in 6 Monaten durch Kulturprojekte echte Gemeinschaftsbindung aufbauen?

Während Strukturen wie Vereine den äusseren Rahmen für Gemeinschaft bieten, entsteht das eigentliche Gefühl der Zugehörigkeit im Inneren. Es ist das Ergebnis wiederholter, positiver Interaktionen, bei denen man sich gesehen und als Teil eines grösseren Ganzen fühlt. Kulturprojekte sind hierfür besonders wirksam, da sie auf einem gemeinsamen Interesse basieren und ein Ziel verfolgen, das über das rein Soziale hinausgeht. Innerhalb eines halben Jahres lässt sich so ein stabiles Netz an Beziehungen knüpfen, das auch in schwierigen Zeiten trägt.

Der entscheidende Faktor ist die Transformation vom Fremden zum Vertrauten. Dies geschieht, wenn man sich verletzlich zeigt – sei es durch das Singen einer falschen Note im Chor, das Stellen einer «dummen» Frage in einem Sprachkurs oder das gemeinsame Scheitern und Wiederaufstehen bei einem handwerklichen Projekt. Diese Momente menschlicher Verbindung sind es, die eine oberflächliche Bekanntschaft in eine echte Bindung verwandeln.

Ein wunderbares Beispiel für einen Ort, der solche Verbindungen fördert, ist die mehrsprachige Bibliothek «Librimondo» von Multimondo in Biel. Mit Büchern in über 60 Sprachen bietet sie nicht nur Zugang zu Literatur, sondern schafft einen symbolischen Raum. Ein Zugezogener findet hier ein Buch in seiner Muttersprache und fühlt sich sofort verstanden und willkommen. Ein Einheimischer kann eine neue Kultur entdecken. Es entsteht ein Dialog, ein Austausch, der die Basis für echte Gemeinschaftsbildung ist. Ein solches Projekt kann in sechs Monaten mehr bewirken als jahrelanges nebeneinanderher Leben.

Es geht darum, bewusst Orte und Projekte aufzusuchen, die nicht nur Konsum, sondern Interaktion und gemeinsames Schaffen in den Mittelpunkt stellen. In diesem Prozess wird aus einer Gruppe von Individuen eine Gemeinschaft, und aus einem geografischen Ort wird eine Heimat. Das Gefühl, gebraucht zu werden und einen Beitrag zu leisten, ist der stärkste Klebstoff für soziale Bindungen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Aktivität vor Passivität: Wahre Identität entsteht nicht durch Kulturkonsum, sondern durch aktive Mitgestaltung und Teilnahme.
  • Volkskultur als Anker: Lokale und regionale Traditionen sind oft zugänglicher und schaffen ein stärkeres Gefühl der Verwurzelung als globale Hochkultur-Events.
  • Die persönliche Geschichte zählt: Die Dokumentation der eigenen Familien- oder Migrationsgeschichte ist eine kraftvolle Form der kulturellen Selbstverortung und stärkt die Identität.

Wie Sie als Zugezogener in 3 Monaten Zugang zu lokalen Traditionen finden?

Für Zugezogene, sei es aus einem anderen Kanton oder einem anderen Land, kann der Zugang zu lokalen Traditionen zunächst wie eine unüberwindbare Hürde erscheinen. Dialekte, ungeschriebene soziale Regeln und ein enges Vereinsleben können abschreckend wirken. Doch mit der richtigen Strategie ist es möglich, innerhalb von nur drei Monaten erste echte Verbindungen zu knüpfen. Der Schlüssel liegt in der Proaktivität und der Nutzung gezielter Integrationsangebote.

Suchen Sie gezielt nach «Brückenbauern» – Institutionen und Menschen, deren explizites Ziel es ist, Neuzuzüglern den Einstieg zu erleichtern. Ein herausragendes Beispiel ist die Einführung der KulturLegi im Kanton Glarus seit Januar 2024. In Zusammenarbeit mit lokalen Partnern wie dem Glarner Kunstverein oder der Lintharena Näfels bietet der Kanton Menschen am Existenzminimum vergünstigten Zugang zu Kultur. Solche Initiativen, die oft vom kantonalen Integrationsprogramm (KIP) getragen werden, sind eine offene Einladung, am lokalen Leben teilzunehmen.

Sprache ist oft der direkteste Weg zur Kultur. Die Kombination aus Spracherwerb und kultureller Aktivität ist besonders wirksam. Salome Kern von der Caritas Thurgau hebt genau diesen Punkt hervor und zeigt, wie wertvoll solche Angebote sind.

Besonders wertvoll ist die Zusammenarbeit mit der Migros-Klubschule Ostschweiz und der Sprachschule Academia Integration. Personen mit Migrationshintergrund und knappem Budget können damit günstig Deutsch lernen. In diesem Bereich erhalten wir besonders oft positive Rückmeldungen.

– Salome Kern, Projektleiterin Caritas Thurgau

Im Kanton Thurgau nutzen bereits fast 1’000 Menschen dieses Angebot. Der erste Schritt ist oft der schwierigste: Besuchen Sie das nächste Dorffest, nicht nur um zuzuschauen, sondern um mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Fragen Sie nach der Bedeutung eines Brauchs. Zeigen Sie ehrliches Interesse. Die meisten Menschen teilen ihre Kultur gerne, wenn sie spüren, dass das Interesse echt ist. Innerhalb von drei Monaten können so aus ersten schüchternen Kontakten regelmässige Begegnungen und der Beginn einer echten Integration werden.

LEC

Wie Sie durch lokale Traditionen Stabilität und Zugehörigkeit in unsicheren Zeiten finden?

In einer Welt, die von globalen Krisen und schnellem Wandel geprägt ist, suchen Menschen nach Ankern, die Stabilität und ein Gefühl der Kontinuität vermitteln. Lokale Traditionen – seien es der wöchentliche Jass-Abend, der jährliche Alpabzug oder das gemeinsame Singen im Chor – bieten genau das. Sie sind wiederkehrende Rituale, die den Jahreslauf strukturieren und eine Verbindung zur Vergangenheit und zur Gemeinschaft herstellen. Diese vorhersehbaren, geteilten Erlebnisse wirken wie ein psychologischer Schutzschild gegen die Unsicherheiten der modernen Welt.

Die Teilnahme an solchen Traditionen stärkt nicht nur die Gemeinschaft, sondern hat auch direkte positive Auswirkungen auf das individuelle Wohlbefinden. Wie die Schweizerische Gesundheitsbefragung zeigt, geben beeindruckende 77% der Schweizer Bevölkerung an, sich vital und energiegeladen zu fühlen, während 82% sich meistens oder immer glücklich fühlen. Diese hohen Werte sind auch ein Indikator für eine Gesellschaft mit starken sozialen Netzen und Möglichkeiten zur Teilhabe, die ein Gefühl der Sicherheit vermitteln.

Das Besondere an der Schweizer Identität ist, dass sie sich nicht über ethnische oder sprachliche Einheitlichkeit definiert, sondern über den Willen, die Vielfalt zu einer Einheit zu verbinden. Dieser Gedanke ist ein starker Trost und eine Motivation zugleich.

Der Wille zur Einheit trotz aller Unterschiede ist das Kernelement der Schweizer Identität.

– SRF Kultur, Schwerpunktwoche Mehrsprachigkeit

Indem Sie sich aktiv in lokale Traditionen einbringen, werden Sie Teil dieser gelebten Einheit. Sie tragen dazu bei, ein Stück Kultur lebendig zu halten, und schaffen gleichzeitig für sich selbst einen festen Punkt in einer sich schnell drehenden Welt. Diese Verankerung im Lokalen macht nicht immun gegen globale Unsicherheiten, aber sie gibt die Kraft und die Gemeinschaft, um ihnen mit mehr Resilienz zu begegnen. Die Zugehörigkeit, die daraus erwächst, ist ein tiefes Wissen darum, dass man auch in stürmischen Zeiten einen sicheren Hafen hat.

Der Weg zu einer gefestigten Identität und einem echten Zugehörigkeitsgefühl ist ein aktiver Prozess der Aneignung und Gestaltung. Beginnen Sie noch heute damit, Ihre eigene kulturelle Landkarte zu zeichnen und die verborgenen Schätze Ihrer Umgebung und Ihrer Geschichte zu entdecken. Ihr Zugehörigkeitsgefühl wartet darauf, von Ihnen aktiv gestaltet zu werden.

Geschrieben von Raphael Sommer, Raphael Sommer ist Kulturanthropologe und Experte für nachhaltigen Tourismus mit über 10 Jahren Erfahrung in Feldforschung, Kulturvermittlung und Tourismusberatung. Er studierte Kulturanthropologie an der Universität Zürich und absolvierte einen Master in Sustainable Tourism Management. Aktuell arbeitet er als Berater für Destinationsmanagement-Organisationen und publiziert zu Themen wie kulturelle Identität, Tradition und verantwortungsvolles Reisen.